S. Jenzer (u.a.): Psychiatrische Klinik Burghölzli

Cover
Titel
Eingeschlossen. Alltag und Aufbruch in der psychiatrischen Klinik Burghölzli zur Zeit der Brandkatastrophe von 1971


Autor(en)
Jenzer, Sabine; Keller, Willi; Meier, Thomas
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 48,00
URL
von
Emmanuel Neuhaus

Das Buch Eingeschlossen hat eine tragische Vorgeschichte. Als am 26. März 1971 in der Zürcher Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli ein fataler Brand ausbrach, starben 28 Patienten. Ihnen ist das zu besprechende Buch gewidmet. Aufgrund des Unglücks musste damals auch eine geplante Ausstellung abgesagt werden, für die der Psychiatriepfleger, Künstler und Fotograf Willi Keller den Klinikalltag mit der Kamera festgehalten hatte. Die Fotografien gerieten danach in Vergessenheit. Erst 2014 entdeckte Keller sie in seinem privaten Archiv wieder und bot sie dem Staatsarchiv Zürich an. Der Staatsarchivar Beat Gnädinger erkannte den ausserordentlichen Wert der Aufnahmen und initiierte ein Buchprojekt, für das er die beiden Historiker Sabine Jenzer und Thomas Meier gewinnen konnte.

Eingeschlossen gliedert sich in drei Teile: Die Fotografien und Texte Kellers bilden den Hauptteil und werden von kontextualisierenden Beiträgen Jenzers und Meiers umrahmt. Im ersten Teil schildern sie das Brandunglück und dessen unmittelbaren Folgen. Basierend auf Interviews mit dreizehn ehemaligen Ärztinnen und Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger beleuchten Meier und Jenzer im dritten Teil verschiedene Aspekte des Klinikalltags.

Hauptsächlich gestützt auf amtliche Dokumente und Presseberichte zeigen Meier und Jenzer im ersten Teil, wie es durch eine Verkettung unglücklicher Umstände zur Brandkatastrophe kam. Der Brand ereignete sich mitten in einer Phase gesellschaftlicher Umwälzungen, die auch vor der Psychiatrie nicht Halt machten, und legte schonungslos bestehende Missstände offen. Dass viele Patient*innen, wie bereits der Titel andeutet, innerhalb der Klinik eingeschlossen waren, trug massgeblich zur Katastrophe bei. Im Nachgang an die medial breit und kontrovers rezipierte Tragödie klagte die Bezirksanwaltschaft den diensthabenden Nachtpfleger wegen Fahrlässigkeit an. Die genaue Ursache des Feuers sowie die Schuld des Angeklagten konnten jedoch nicht ermittelt werden, weshalb das Verfahren 1972 mit einem Freispruch endete. In mediale Kritik geriet ferner der Verwaltungsdirektor des Burghölzli, dem diverse Nachlässigkeiten angelastet wurden. Eine unabhängige Untersuchung entkräftete diese Vorwürfe später.

Die über achtzig Schwarz-Weiss-Fotografien von Willi Keller aus den verschiedenen Männerabteilungen des Burghölzli bilden den zweiten Teil und das Herzstück des Buchs. In den Begleittexten greift Keller jeweils einen bestimmten Aspekt des Klinikalltags heraus und stellt einzelne Patienten vor. Die als dokumentarisch zu charakterisierenden Fotografien bieten einen einmaligen Einblick in den eintönigen Alltag der Klinikpatienten. So zeigt Keller mit seinen Fotografien, dass in erster Linie die Aufenthalte im Hof sowie Spiele wie Federball und Schach den Patienten etwas Abwechslung in den ansonsten repetitiven täglichen Routinen boten. Als Angehöriger des Pflegekörpers gelang es Keller, den Klinikalltag weitgehend ungestört und mit einem empathischen Blick einzufangen, wie es Aussenstehende kaum vermocht hätten.

Der dritte und letzte Teil widmet sich zunächst dem Burghölzli, dessen organisatorischem Aufbau sowie der Klinikatmosphäre mit ihren spezifischen Geräuschen und Gerüchen. In den nachfolgenden Ausführungen steht der Alltag des Personals im Zentrum. Um den Rahmen des Buchprojekts nicht zu sprengen, verzichteten Jenzer und Meier bewusst darauf, die «nicht minder interessante und wichtige Perspektive» der ehemaligen Patientinnen und Patienten miteinzubeziehen.

Deutlich wird in diesem Kapitel, dass die Hierarchien 1970 sehr steil waren und die medizinischen und pflegerischen Berufsgruppen weitgehend getrennt voneinander lebten. Im Klinikalltag tauschten sich die Assistenzärztinnen und Assistenzärzte hingegen rege mit dem Pflegepersonal aus, da letzteres deutlich mehr Zeit mit den Patientinnen und Patienten verbrachte.

Weiter erfahren die Leserinnen und Leser, dass in therapeutischer Hinsicht um 1970 eine ganze Palette neuer Methoden eingeführt wurde, die die umstrittenen sogenannten «grossen körperlichen Kuren» – die Insulinschocktherapie, die Schlaf- und die Fieberkur sowie die Elektroschockbehandlung – schrittweise ablösten. So setzten die Ärzt*innen im Zuge der «pharmakologischen Wende» bei der Behandlung der Patientinnen und Patienten seit Mitte der 1950er vermehrt auf Medikamente, zu deren Erforschung im Burghölzli eigens eine Forschungsabteilung aufgebaut wurde. Zudem gelangten nicht-medikamentöse Therapiemethoden wie beispielsweise die Ergotherapie oder Gruppentherapien zu standardmässiger Anwendung.

Einzelne Verbesserungen in den täglichen Routinen der Patient*innen initiierte die sogenannte Basisgruppe, die sich inspiriert von der 68er- und der Antipsychiatriebewegung um 1970 formiert hatte und sich sowohl aus Pflegerinnen und Pfleger als auch Ärztinnen und Ärzte zusammensetzte. Die Klinikleitung verhielt sich zurückhaltend, zeigte sich aber zumindest teilweise offen für die Ideen der Basisgruppe.

Rückblickend bewerten die interviewten Pflegerinnen und Pfleger und Ärztinnen und Ärzte die Weichenstellungen um 1970, die eine gesellschaftliche Wiedereingliederung der Patientinnen und Patienten als primäres Ziel, bauliche und infrastrukturelle Massnahmen sowie schliesslich den Ausbau niederschwelliger und ambulanter Angebote umfassten, durchweg positiv. Gleichwohl sieht das Gros die Entwicklung hin zur «Drehtürpsychiatrie» mit zwar verkürzten, dafür aber oft wiederholten Klinikaufenthalten kritisch.

Sabine Jenzer und Thomas Meier ist es gelungen, aufschlussreiche Einblicke in das Leben hinter den Anstaltsmauern zu geben. Obwohl sie einleitend ausführen, dass sie lediglich «Schlaglichter» auf die zu weiten Teilen entweder noch ungeschriebene oder revisionsbedürftige Psychiatriegeschichte werfen können, ist Eingeschlossen auch für die Wissenschaft von hohem Wert. Dies zum einen aufgrund Kellers intimer fotografischer Dokumentation, die einmalige plastische Einblick in den Klinikalltag des Burghölzli gewähren. Als Glücksfall ist der Umstand zu bezeichnen, dass mit Keller ein Pfleger fotografierte, der sowohl die Klinik als auch die Patienten kannte. Zum anderen erhellen die Ausführungen der Interviewpartner*innen im dritten Teil den bis dato noch wenig untersuchten Klinikalltag, wie es alleine mithilfe amtlicher Quellen nicht möglich wäre.

Obschon Jenzers und Meiers Anspruch bescheiden und erklärtermassen kein akademischer ist, vermisst man als Leser*in ein Literatur- und Quellenverzeichnis. Für künftige Forschungsvorhaben wäre es zudem hilfreich zu wissen, ob und wo die Interviews resp. deren Transkripte zugänglich sind. Zu den Interviewpersonen wären darüber hinaus Ausführungen zur Auswahl und eine kritischere Einordnung wünschenswert gewesen. Weil ein beträchtlicher Teil der Interviewten der erwähnten «Basisgruppe» angehörte, bleibt zu vermuten, dass konträre Stimmen unterrepräsentiert sind. Ferner ist es für die Leserschaft aufgrund der Verwendung des generischen Maskulinums in einzelnen Abschnitten schwierig, herauszulesen, ob sich eine Aussage auf die gesamte Klinik oder nur auf die Männerabteilung bezieht.

Die Lektüre des Buches ist aber ohne Frage allen zu empfehlen, die sich für das Burghölzli in den Jahren um 1970 oder ganz allgemein für den Alltag in psychiatrischen Kliniken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessieren.

Zitierweise:
Jaun, Rudolf: Rezension zu: Jenzer, Sabine; Keller, Willi; Meier, Thomas: Eingeschlossen. Alltag und Aufbruch in der psychiatrischen Klinik Burghölzli zur Zeit der Brandkatastrophe von 1971, Zürich 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 509-511. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.